Bildung und Unterhaltung:
Die Einrichtung einer „Volksbibliothek“ in Dramfeld im Jahr 1921
Überarbeitete Fassung des Fliegenden Blattes No. 7/2010
Liebe Leserinnen und Leser!
„Also lautet ein Beschluß, daß der Mensch was lernen muß“. So heißt es schon bei Wilhelm Busch (1832 – 1908). In seiner Zeit und noch Jahrzehnte danach konnten sich nur relativ wenige Familien vom Lande leisten, ihre Kinder auf eine höhere Schule zu schicken, denn der Schulbesuch kostete Geld, und die Kinder mussten in einer Pension untergebracht werden. Die meisten Kinder und Jugendlichen gingen acht Jahre in die Volksschule, wo sie lesen, schreiben und rechnen lernten; das musste genügen, um sich nach Ende der Schulzeit in der Welt zurecht zu finden.
Um aber nun auch dem „Volk“, den „einfachen“ Leuten, die höchstens acht Jahre in die Schule gegangen waren, die Möglichkeit zu bieten, sich weiterzubilden, gingen im 19. Jahrhundert interessierte und vorausschauende Persönlichkeiten, großenteils Lehrer und Pastoren, aber auch gebildete Handwerker und höhere Verwaltungsbeamte daran, „Volksbibliotheken“ zu gründen. Diese Büchereien sollten „gute Bücher“ anbieten, um von der „Schundliteratur“, die es auch damals gegeben hat, abzulenken. Gute Bücher sollten unterhaltsam und lehrreich zugleich sein, sie sollten über Heimatkunde, über heimatliche und nationale Geschichte, über Erfindungen und Forschungsreisen berichten.
Die preußische Regierung schätzte die Einrichtung von „Volksbibliotheken“ und unterstützte deren Gründungen mit Schenkungen von „großen“ und „kleinen“ „Volksbibliotheken“, die an die 100 bzw. 40 Bücher enthielten. Es waren Büchersammlungen, die vom Ministerium für Volksbildung zusammengestellt wurden, und aus der Sicht der „Obrigkeit“ den Vorteil hatten, dass alle Büchereien, die ein solches Geschenk bekamen, die gleichen Bücher und damit alle Leser den gleichen Wissensstand erhielten.
Im Vergleich zu anderen Orten im Landkreis erhielt Dramfeld relativ spät eine solche Bücherei für Erwachsene. Aus den Aufzeichnungen in der Schulchronik erfährt man, dass 1887 in der Zeit des Lehrers Möhleke zunächst einmal eine Schülerbibliothek eingerichtet wurde, die mit einer Beihilfe des Regierungspräsidenten in Hildesheim in Höhe von 100,- Mark ins Leben gerufen werden konnte. Erst im Jahre 1921, zu Zeiten von Lehrer Gustav Waltemath, wurde die sogenannte „Volksbibliothek“ eingerichtet.
Der Hinweis darauf, dass es in Dramfeld neben einer Bibliothek für Schüler auch eine Bibliothek für Erwachsene, die oben erwähnte „Volksbibliothek“ gegeben hat, fand sich vor einigen Jahren bei einer „Reorganisation“ der Schülerbibliothek: Zwischen Kinder- und Jugendbüchern standen zwei Bücher des Heimatdichters Heinrich Sohnrey mit dem handschriftlichen Vermerk „Eigentum der Volksbibliothek Dramfeld“.
Lehrer Waltemath berichtet in der Schulchronik, dass die Bibliothek für die Erwachsenen 1924 – also nach knapp drei Jahren Bestand - ganze 21 Bücher besaß; in den Inflationsjahren 1922 und 1923 hatten keine Anschaffungen erfolgen können. Erst 1924 wurden neun neue Bücher gekauft, da ein „Familienabend“, den die Schule im Winter für das Dorf veranstaltet hatte, entsprechend hohe Einnahmen erbrachte. 1925 stifteten die Konfirmanden der Bibliothek das Buch „Hubertus“ von Paul Keller. Für 1927 und 1928 vermerkt Lehrer Waltemath, dass die Bestände der Schülerbücherei sogar schrumpften; vermutlich musste einiges ausgemustert, konnte aber nicht wieder ersetzt werden. Lange Zeit war die „Volksbibliothek“ weniger gut bestückt als die Schülerbücherei; 1929 aber besaßen beide Einrichtungen jeweils 90 Bücher.
Ein Inventar mit Titeln und Autoren hat sich leider nicht erhalten, ebenso wenig findet sich ein Hinweis auf weitere Schenkungen. Die Eintragungen in der Schulchronik über Schüler- und „Volksbibliothek“ enden mit dem Jahr 1935, in dem beide Büchereien je 124 Bände besaßen. In jenem Jahr endete auch die Tätigkeit des Lehrers Waltemath in Dramfeld, der nach Nikolausberg versetzt wurde.
Die „Volksbibliothek“ stand offenbar ausschließlich den Erwachsenen zur Verfügung, denn der Lehrer schreibt über den Winter 1929/30, dass die Schüler fleißig ihre Bücherei und 20 bis 25 erwachsene Leser die „Volksbibliothek“ benutzt hätten.
In der Zeit, über die ich hier berichte, war das Lesen von Büchern in vielen Familien eine außergewöhnliche Freizeitbeschäftigung - sozusagen ein Luxus. Eigentlich durfte man keine Zeit für das Lesen von Büchern haben; Lesen galt sogar lange Zeit als unnützer Zeitvertreib. Die Kinder konnten erst seit 1919 das ganze Jahr über Bücher ausleihen, vorher war das nur im Winter möglich (oder üblich?) gewesen. Die Erwachsenen liehen überhaupt nur im Winter aus.
Man kann annehmen, dass der Lehrer Gustav Waltemath beim Aufbau der Bibliothek die treibende Kraft gewesen ist. Aus seinen Aufzeichnungen in der Schulchronik geht hervor, dass er in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg auch ein lebhaftes Vereinsleben in Dramfeld angeregt hat: Im Sommer 1919 wurden ein Fußballklub und ein Landwirtschaftsverein und im Herbst 1921 ein Mandolinenklub gegründet. Noch im Sommer 1921 wurde das Ehrenmal für die im 1. Weltkrieg gefallenen Dramfelder Männer eingeweiht.
Und dies alles, obwohl das Leben in den Jahren nach dem 1. Weltkrieg auch in Dramfeld für viele schwer war. Dazu hat der Lehrer in der Schulchronik vermerkt, dass die landwirtschaftlichen Arbeiter in Wohnungen lebten, die „durchweg zu klein und in schlechtem Zustande“ waren; dass die „wirtschaftliche Lage der Arbeiter (…) wenig rosig (war), die landwirtschaftlichen Arbeitslöhne außerordentlich gering“. Außerdem war das Dramfelder Mergelwerk 1921 geschlossen worden.
Auf derart beengte finanzielle Verhältnisse musste der Lehrer Rücksicht nehmen, wenn er von den Eltern „nur“ die Anschaffung neuer Schulbücher verlangte. Offensichtlich gab es eine ganze Reihe äußerst bedürftiger Dramfelder Familien - im Winter 1928/29 sind 15 bis 25 Arbeitslose bei 360 Einwohnern verzeichnet - so dass der Lehrer 1928 dem Schulvorstand vorschlug, dass die Gemeinde die Schulbücher für die Kinder dieser Familien anschaffen sollte. Wie der Schulvorstand 1928 entschied, hat der Lehrer nicht in der Schulchronik festgehalten.
Immerhin finden sich in der Chronik Informationen über die Beteiligung der Dorfpolitiker und der Elternschaft am Schulleben: Über den Schulvorstand, der u.a. über die Ausstattung der Schule zu befinden hatte, und über den Elternbeirat. Für die Zeit zwischen 1919 und 1928 sind die Namen der Mitglieder des Schulvorstandes bekannt. Laut Gesetz waren dies der Pastor, der Lehrer und der Bürgermeister, sowie drei weitere Mitglieder, die der Gemeindeausschuss zu wählen hatte.
Der Schulvorstand
Seit März 1919 saßen im Schulvorstand Gemeindevorsteher Louis Schmidt (als Vorsitzender), Lehrer Gustav Waltemath (als stellvertretender Vorsitzender), Gutsbesitzer Theodor Küsel, Schmiedemeister August Lüdecke, Stellmachermeister August Diedrich und Pastor Rabe aus Obernjesa. Aber außer dem Lehrer scheinen die Mitglieder des Schulvorstandes dieses Gremium nicht besonders ernst genommen zu haben: Lehrer Waltemath bemängelte, dass die Sitzungen äußerst selten stattfänden.
Als neun Jahre später die oben erwähnte Entscheidung über Schulbücherkäufe für hilfsbedürftige Dramfelder Familien anstand, bildeten außer den oben genannten ersten drei noch Landwirt Karl Schlote (anstelle von Schmiedemeister August Lüdecke), Maurer August Diedrich, Pastor Goßmann, Domänenpächter Ohlmer und Schäfer August Aue aus Mariengarten den Vorstand des 1921 gegründeten Gesamtschulverbandes Dramfeld-Mariengarten. Es findet sich keine Bemerkung darüber, ob das Interesse dieser Männer an der Schulpolitik zugenommen hatte.
Der Elternbeirat
Seit 1919 sollten auch die anderen Eltern mehr am Schulleben beteiligt werden und konnten sich in einen Elternbeirat wählen lassen. Den ersten Beirat vom März 1920 bildeten Wilhelm Diedrich, Ludwig Busse, Elfriede Hofmeister und August Lüdecke aus Dramfeld sowie August Herbst aus Mariengarten. Die Ersatzleute für Dramfeld waren Heinrich Dieckmann und Karl Schlote, für Mariengarten Fritz Aue. 1922 wurde ein zweites Mal ein Elternbeirat gewählt, und damit scheint das Interesse der Elternschaft erschöpft gewesen zu sein; „es bestand keine Neigung“ kommentiert Lehrer Waltemath das Desinteresse, „um so mehr, da der erste Elternbeirat Ostern 1920/21 parteipolitisch eingestellt war und für Schule und Elternschaft nur Nachteiliges brachte“. Man kann darüber spekulieren, ob die Eltern keine Zeit oder keine Lust hatten, sich um Schulangelegenheiten zu kümmern, oder ob es manchem eher unbehaglich zu Mute war, mit Lehrer, Pastor und Gutsbesitzer an einem Tisch zu sitzen und nach demokratischen Spielregeln mit einander reden zu sollen.
Spätestens1930 war das Interesse der Eltern an einer „Mitarbeit“ völlig erloschen; von 60 wahlberechtigten Eltern erschienen sechs zur Elternversammlung. Insofern ist es ihnen vermutlich auch nicht weiter aufgefallen, dass 1933 die Elternbeiratswahlen ausgefallen sind, der seinerzeit bestehende Beirat aufgelöst wurde und 1935 die Elternbeiräte vom Vorsitzenden des Schulvorstandes - ohne vorherige Wahl - ernannt wurden. Erst 1956 wurde wieder ein demokratisch gewählter Schulausschuss mit Vertretern der Elternschaft gebildet.
Über den Verbleib der Dramfelder „Volksbibliothek“ nach 1935 ist bisher nichts bekannt. Anhand des Schulstempels in den beiden Sohnreybänden, die ursprünglich der Bibliothek für die Erwachsenen gehörten, lässt sich folgern, dass die „Volksbibliothek“ in die Schulbibliothek eingegliedert worden ist. Ob diese Bibliothek in den 30er Jahren tatsächlich noch Literatur für Erwachsene angeboten hat, ist schwer zu sagen. Ein Buch, das die politische Gemeinde der Volksschule Dramfeld am 1. Juli 1936 schenkte, konnte sowohl von älteren Schülern wie auch von Erwachsenen gelesen werden: „Die Sollinger“ von dem seinerzeit äußerst beliebten und in unserer Gegend sehr bekannten Heinrich Sohnrey.
Dr. Dagmar Kleineke, Ortsheimatpflegerin
Dramfeld im Februar 2015.
Quellen:
1. Schulchronik der Volksschule Dramfeld (in Kopie).
2. Heinrich Sohnrey: Die hinter den Bergen. Gestalten und Geschichten aus dem Hannoverschen Berglande. Mit Buchschmuck von Dan. Krencker. Dreizehnte Aufl. Deutsche Landbuchhandlung G.m.b.H., Berlin o.J… (Auf dem Deckblatt handschriftlich „C 19. Eigentum der Volksbibliothek zu Dramfeld“).
3. Heinrich Sohnrey: Tchiff tchaff, toho! Gestalten, Sitten und Bräuche, Geschichten und Sagen aus dem Sollinger Walde. Mit Zeichnungen von A. Nolte. Deutsche Landbuchhandlung, Berlin 1929. (Auf dem Deckblatt handschriftlich „V 89. Eigentum der Volksbücherei Dramfeld. 1929. Geschenk des Landkreises Göttingen“).
4. Heinrich Sohnrey: Die Sollinger. Eine Volkskunde des Sollinger Waldgebietes (im Weserberglande). 2. vermehrte und verbesserte Ausgabe. Deutsche Landbuchhandlung, Berlin 1936. (Auf dem Deckblatt handschriftlich „Der Volksschule in Dramfeld gewidmet von der Politischen Gemeinde Dramfeld, den 1. Juli 1936. Der Bürgermeister.“).
5. Dagmar Kleineke: Gute Bücher gegen die Socialdemokratie. Politik, Verwaltung und Volksbildung am Beispiel der Gladebecker Volksbibliothek, Referat vor den Ortsheimatpflegern des Landkreises Göttingen November 2000.
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